6. Deaf Dental Forum
von 8. - 10. Februar 2019
„Meine Reise zur lautlosen Welt der gehörlosen Zahntechniker“
Zu Gast als Referentin beim 6. Deaf Dental Forum
vom 8. - 10. Februar 2019 in Cuxhaven
Wie alles begann
Alles begann mal wieder mit Facebook. Seit meinem Amtsantritt als Referatsleitung Zahntechnik beim Verband medizinischer Fachberufe e.V. im Juni 2016 nutze ich dieses Medium zum Netzwerken. Mir ist wichtig zu wissen, welche Themen für die Kollegen in der Zahntechnik relevant sind, wo es Probleme gibt und auch wie sich die Technik weiter entwickelt. Richtig gut wird es dann, wenn aus diesem virtuellen Netzwerk menschliche Begegnungen und sogar wirkliche Freundschaften entstehen.
Im Frühjahr 2018 fragte eine hörgeschädigte Zahntechnikerin in einer FB-Gruppe nach weiteren Betroffenen. Die Resonanz war immens und die entsprechenden Kommentare machten mir bewusst, dass Kolleginnen und Kollegen mit Handicap unbedingt mehr Aufmerksamkeit brauchen. Ich führte ein Interview mit der gehörlosen Kollegin und recherchierte ausführlich über das Thema, um die besondere Problematik kennenzulernen und auch verstehen zu können. Für unser Verbandsorgan „Praxisnah“ und die Juniausgabe 2018 des „Dental-Labor“s habe ich danach Beiträge zum Thema geschrieben.
Bei meinen Recherchen las ich über Vorurteile, Ausgrenzung und schmerzliche Fälle von Mobbing aber auch von Mut, Engagement und die Möglichkeiten einer gelungenen Inklusion. Fast zwangsläufig stieß ich dabei auf das Engagement von André Thorwarth, der durch seine Organisation Tagungen, Weiterbildungskurse und Führungen auf der IDS auch für die hörgeschädigten Kolleginnen und Kollegen ermöglicht. Schnell und unkompliziert war der Kontakt über FB sowohl von meinem Stellvertreter Nico Heinrich als auch von mir mit André hergestellt und im Spätherbst lud er uns ein, als Vertreter des Verbandes beim 6. Deaf Dental Forum mit einem Vortrag teilzunehmen.
Auf Grund unserer bereits ziemlich vollen Terminkalender beschlossen wir, dass ich die Einladung annehmen, jedoch alleine nach Cuxhaven reisen werde. In einem ersten Telefonat mit André und seiner Dolmetscherin konnten wir Konditionen und erste Fragen wie das Thema des geplanten Vortrags usw. klären. Danach korrespondierten wir völlig problemlos über alle zur Verfügung stehenden Kanäle wie E-Mail, Messenger oder Whats-App.
Unser Umgang miteinander entwickelte sich von Nachricht zu Nachricht freundschaftlicher und lockerer, was mir sehr half, meine Anspannung weitgehend los zu lassen. Bei einer Tagung vor vielen Menschen zu referieren ist für mich eine besondere Herausforderung. Aber mit Simultanübersetzung vorzutragen stellte ich mir schwierig vor. Ich war unsicher, wie ich meine Präsentation gestalten soll, wieviel Text ich in die Folien packen darf und was ich beim Sprechen beachten muss. Wenige Wochen vor dem Termin erhielt ich fachkundiges Feedback und weitere wertvolle Hinweise von Frau Karen Wünsche, der sehr erfahrenen Gebärdendolmetscherin, die zusammen mit ihren Kollegen die gesamte Veranstaltung in Cuxhaven begleiten würde.
Auf dem Weg
So stieg ich also ziemlich entspannt am 7. Februar in einen ICE Richtung Norden und kam pünktlich am Abend in Cuxhaven an. Beim Einchecken im Strandhotel stand ich in einer längeren Schlange von gehörlosen Kolleginnen und Kollegen, die sich angeregt unterhielten und Neuankömmlinge mit Winken und Umarmungen freudig begrüßten. Außergewöhnlich für mich als Hörende war, dass in dieser fröhlichen Stimmung das Stimmengewirr nahezu fehlte. Ich ärgerte mich, dass ich nicht wenigstens die wichtigsten Gebärden zuvor gelernt hatte, um mich in dieser Situation ein bisschen besser verständigen zu können.
Mit André hatte ich vereinbart, dass ich mich mit ihm direkt nach meiner Ankunft im Tagungsraum treffen würde. Unsere erste Begegnung dort war, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. Er stellte mich seiner Frau und den schon anwesenden Dolmetscherinnen vor, auch Frau Wünsche lernte ich hier endlich persönlich kennen.
Aus meinen Recherchen wusste ich, dass die Art der Kommunikation bei Hörgeschädigten stark davon abhängt, wann sie ertaubt sind. Werden Menschen ohne Hörfähigkeit geboren oder verlieren sie bereits als Baby z.B. durch eine Krankheit, ist es für sie sehr schwierig sprechen zu lernen, denn die Nachahmung von Lauten setzt Hören voraus. Die Sprache klingt dann für Hörende häufig ziemlich undeutlich und erschwert eine Verständigung nach deren Maßstäben.
Dies erfuhr ich am gleichen Abend in eindrucksvoller Weise. Hungrig und noch etwas angestrengt durch die lange Zugfahrt begab ich mich voller Vorfreude zur vorgegebenen Zeit in den Restaurantbereich des Hotels. Bekannte Gesichter konnte ich keine entdecken, so fragte ich die Leute an einem nur halb besetzten Tisch, ob ich mich dazusetzen dürfe. Auch hier wurde ich freundlich begrüßt und versucht, mich ins Gespräch einzubeziehen. Sehr schnell war den Anwesenden klar, dass ich mich wohl im Raum geirrt haben muss, weil ich als Einzige der Gebärdensprache nicht mächtig war. Mir war nicht bewusst, dass André eine zweite Veranstaltung als Leiter vom „Institut 4C“ am gleichen Ort organisiert hatte. Diese Gruppe war an diesem Wochenende mit Professor Dr. Ulrich Hase zum Konflikttraining für Gehörlose zusammengekommen und nun versuchten sie vergeblich, mir das verständlich zu machen. Auf die Idee, dass ich im „falschen Film“ sitzen könnte, kam ich erst gar nicht, so wartete ich einfach ab, beobachtete die Runde und versuchte ohne Erfolg zu verstehen, was gebärdet wurde.
Dabei ging mir durch den Kopf, dass ich umgekehrt gerade erlebe, was für viele Gehörlose alltäglich ist, nämlich nicht mitreden zu können. Kein schönes Gefühl! Ich grübelte über Kommunikation im Allgemeinen und erinnerte mich an meine Mediationsausbildung, in der wir den Begriff „Kultur“ für uns neu definieren lernten. Wir sprachen von Unternehmenskulturen, unterschiedlichen Kulturen von Männern und Frauen – „Kultur“ im Sinne verschiedener Herkunft und Sozialisation. Wir lernten, „Kultur“ nicht als Realität, sondern als „Denkmodell“, als „Perspektive“ zu verstehen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie diese Perspektive für Hörgeschädigte aussehen mag, in einer Welt von Hörenden.
Dazwischen wunderte ich mich, dass immer noch kein Essen serviert wurde und erst als Professor Hase den Raum betrat, konnte er mein Missverständnis aufklären und mir den Weg zum anderen Teil des Restaurants zeigen. Dort traf ich nun die Dolmetscherinnen und andere Hörende, mit denen ich in gewohnter Weise kommunizieren konnte.
Angekommen
Für mich war sehr ungewöhnlich, am nächsten Morgen in einen vollbesetzten Frühstücksraum zu kommen, in dem es ganz leise war. Die Tagungsteilnehmer gebärdeten lebhaft und hatten offensichtlich jede Menge Spaß. Ich fühlte mich ein bisschen fremd, aber das wäre mir in einem Land, in dem ich die Sprache nicht verstehe, genau so ergangen. Einige aus der Gruppe vom Vorabend traf ich am Buffet und immerhin verstand ich, dass sie mir einen schönen Tag wünschten. Das tat richtig gut!
Nur einen kurzen Spaziergang entfernt lag der Tagungsraum mit spektakulärem Meerblick. Dort traf ich André, die Dolmetscher/innen und auch meine persönliche Kommunikationsassistentin Hannah, eine sehr engagierte junge Frau, die in Magdeburg ihr Studium zur Gebärdendolmetscherin absolviert. Über E-Mail standen wir zuvor schon in Kontakt, weil sie sich auf meine Arbeit beim Verband einstimmen und vorbereiten wollte. Meinen fertigen Vortrag hatte ich bereits an Frau Wünsche geschickt, sodass sie sich mit meinem geschichtlichen Thema vertraut machen konnte. Ein kleiner Tisch mit Infomaterialien vom Verband war schnell eingerichtet und die ersten Teilnehmer gesellten sich interessiert dazu. Positiv überrascht, dass wir uns als angestellte Zahntechniker im Verband medizinischer Fachberufe e.V. organisieren können, entwickelte sich sogleich ein lebhafter Austausch über Missstände aber auch die Leidenschaft in der Zahntechnik.
Da die Infostände der Aussteller in den Vortragsraum integriert waren, hatte ich die Gelegenheit, mir sämtliche Fachvorträge anzuhören. Es war faszinierend, wie die Dolmetscher selbst schwierigste Themen und Fachausdrücke so übersetzten, dass die Inhalte für jeden verständlich wurden. Die Gebärdendolmetscher wechselten sich jeweils nach ca. 10 Minuten ab, denn simultan zu übersetzen erfordert erhebliche Konzentration. Zwei andere Übersetzerinnen arbeiteten mit einem Tool, welches gesprochene Sprache zwar in Schrift umwandelte aber simultan korrigiert und angepasst werden musste. Sowohl Gebärden als auch die schriftliche Übersetzung war auf zwei großen Leinwänden zu sehen, sodass alle den Vorträgen folgen konnten. Nicht alle Hörgeschädigten verstehen Gebärdensprache, denn besonders Spätertaubte lesen häufig von den Lippen ab und beherrschen die Lautsprache. Ich war jedenfalls sehr beeindruckt von der Perfektion und technischen Unterstützung.
Bei Veranstaltungen für Hörende wird die Zustimmung für den Referenten an der Lautstärke des Applaus` gemessen. Bei gehörlosen Menschen werden die Arme hochgenommen und mit den Händen gewedelt, zur Verstärkung häufig aufgestanden. Alle im Saal, auch die hörenden Referenten und Aussteller applaudierten auf diese Weise und es tat der Begeisterung keinerlei Abbruch, ganz im Gegenteil. Ich empfand die Atmosphäre äußerst lebhaft, freundlich und sehr aufgeschlossen. Die Teilnehmer zeigten sich sehr interessiert an den Vorträgen, die sich weder in Niveau noch den Themen von anderen Veranstaltungen unterschieden. Auch hier ging es um z.B. Digitalisierung, neue Werkstoffe oder Dentalfotografie, eben das, was uns in der Zahntechnik heute beschäftigt. Professor Dr. Hase sprach über die besondere Störungsanfälligkeit der Kommunikation zwischen Hörgeschädigten und Hörenden. Dabei war für mich sehr interessant, welche Unterschiede in der Kommunikationskultur jeweils bestehen und so zu Konflikten führen können.
Auch mein Vortrag „Arbeit im Wandel“ wurde mit viel Beifall aufgenommen. Industrie 4.0 – jeder spricht davon, doch wie kam es zur 1. Industriellen Revolution und gab es Industrie 2.0 oder 3.0? Deshalb lud ich die Zuhörer zu einer Reise in die Geschichte ein, um die Entwicklung unserer Arbeitswelt im Kontext zur Entstehung und Relevanz von Gewerkschaften und der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Situation darzulegen. Jede Veränderung birgt Chancen aber auch Gefahren, die minimiert werden können, je früher wir gezielt dagegen steuern. Über das große Interesse und die anschließenden Fragen freute ich mich sehr.
Während der Pausen bestand jeweils die Möglichkeit für die Teilnehmer, sich an den Ständen der Industrieanbieter zu informieren, bei mir erhielten sie Material über den Verband. Studentinnen der Gebärdensprache unterstützten jeden Aussteller, so war die Verständigung problemlos. Teilweise war so viel Andrang am Stand, dass wir richtig ins Schwitzen kamen und meine bereitgelegten Broschüren und Flyer bereits nach diesem ersten Tag schon sehr vergriffen waren. Hannah, „meine Studentin“, meisterte die Beantwortung der Fragen souverän und war mir eine große Hilfe. Mit den Kolleginnen und Kollegen, die sowohl Lippenlesen als auch die Lautsprache beherrschten, konnte ich mich selbst prima unterhalten.
Nach diesem Tag war ich richtig in der „lautlosen“ Welt der hörgeschädigten Zahntechniker/innen angekommen. Wir hatten Spaß zusammen, kommunizierten mit Hilfe von Mimik, Gestik und geschriebenen Zetteln und wenn es tiefer gehen sollte, dann unterstützten uns die Dolmetscher. So erhielt der Begriff „Barrierefreiheit“ für mich eine ganz real gefühlte Bedeutung. Wir Aussteller bzw. Referenten und die Dolmetscher waren hier eine kleine Minderheit und ich sah die Barriere bei mir, weil ich nur über meine Sprache verfüge. Und dennoch fühlte ich mich in dieser Gruppe keineswegs wie ein Fremdkörper. Hörende und Nichthörende kommunizieren zwar in weiten Teilen unterschiedlich, aber wir verfügen außerdem über unsere Körpersprache. Diese nimmt sowieso den weitaus größten Teil in der menschlichen Kommunikation ein und prägt somit den zwischenmenschlichen Umgang in wesentlicher Weise. Zweifellos ist der inhaltliche Austausch erschwert, doch die freundliche und herzliche Stimmung, offene und strahlende Gesichter, konzentriertes Anschauen und Beobachten stellten mir eine intensivere Verbindung her, als mit oberflächlichem Small Talk in der hörenden Welt üblich.
Eine großartige Erfahrung und Erkenntnis
Der zweite Tag der Veranstaltung bestätigte mir dieses Empfinden. Hannah, meine persönliche Kommunikationsassistentin, vermittelte mir viele neue Aspekte über die Welt der Gehörlosen. Im Kontext dazu diskutierten wir den Begriff „Kultur“ und stimmten überein, dass dieser hier durchaus angewendet werden kann. Ich stelle mir vor, dass Gehörlose als Minderheit in einer hörenden Welt eigene Perspektiven und Denkmodelle entwickeln, die von den Vorurteilen und Benachteiligungen durch die Hörenden nachhaltig geprägt sein können. Ich sehe die Aufgabe der hörenden Mehrheit, Barrieren abzubauen und Nichthörende zu integrieren, so wie es mir umgekehrt an diesem Wochenende durch Dolmetscher und Technik und nicht zuletzt die hörgeschädigten Kolleginnen und Kollegen widerfuhr. Es beginnt bereits mit der Körpersprache und führt weiter über das Finden geeigneter Möglichkeiten der Kommunikation. Offenheit, Toleranz und gegenseitiges Verständnis stellen für alle Beteiligten die Basis.
Ich bin dankbar, dass ich dieses großartige Wochenende erleben durfte. Meine Begegnungen mit wundervollen Menschen in prachtvoller Umgebung verlieren auch mit zeitlichem Abstand nicht an Intensität in meinem Empfinden.
Ich bin bestärkt in meiner Grundhaltung, den mediativen und systemischen Gedanken in meiner Arbeit zu leben und weiter auszubauen - denn auch bei allen technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen muss der Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen im Vordergrund stehen. Das sollte uns allen bewusst sein.
Karola Krell
Zahntechnikerin, Mediatorin für Wirtschafts- und Arbeitswelt
Referatsleitung Zahntechnik, Verband medizinischer Fachberufe e.V.
Foto von Dominika Belz